Auszüge aus meiner Arbeit Kriegskind

Granatenbeschuss

Am 10.04.1945 hatten die Amerikaner Goslar eingenommen. Am 11.04.
eroberte das 1.Bataillon der 83^rd Infantry Division die Stadt Bad
Harzburg.

Von diesem Tag an wurden in Blankenburg, Straßen und Straßenkreuzungen
beschossen. Mit Artillerie und Panzerkanonen. Nur durch
Tieffliegerangriffe unterbrochen. Neun Tage lang.

Die 83.^rd Infantry Division, ist Blankenburg südlich liegen lassend,
bis zur Elbe, bei Barby, gestürmt. Dort stoppte sie ein Befehl
Eisenhowers, der die Eroberung Berlins den Russen überlassen wollte,
weil ihm Mitarbeiter signalisiert hatten, die Eroberung Berlins würde
100 000 amerikanische Tote kosten. (Tatsächlich haben beim Angriff auf
Berlin von 2,5 Mio Rotarmisten etwa 600 000 ihr Leben geopfert).

Trotz des Granatenbeschusses mussten mein jüngerer Bruder Wolfram (9)
und ich (12) einkaufen gehen und Futter für die Tiere heranholen, für
die Kaninchen und Hühner. Die Kaninchen erhielten im Sommer nur
Grünfutter, die Hühner Körner von selbst gelesenen Ähren oder gewiegte
junge Brennesseln. Unsere Mutter hatte den sinnlosen Tod unseres älteren
Bruders Klaus nach drei Jahren natürlich noch lange nicht verkraftet
gehabt (Klaus starb nach einer Blinddarm-Operation). So überließ sie uns
Kindern, meist mir, alle zu erledigenden Wege.

Tiefflieger über Blankenburg

Die Tiefflieger über Blankenburg wurden vermutlich zunächst zur
Absicherung von amerikanischen Truppen- und Nachschubbewegungen
eingesetzt. Dann waren sie seit dem 10. April 1945 ebenfalls regelmäßig da.

Sie haben sich jeweils einen Straßenzug vorgenommen (der ihnen von einem
Beobachtungsflugzeug zugewiesen worden war), kamen herunter, bis dicht
über die Häuser, folgten dem Straßenzug und ballerten dann aus allen
Rohren. Sie versuchten schräg seitlich in die Häuser hinein zu schießen
oder schossen einfach nur auf die Bürgersteige.

Die liebsten Ziele waren ihnen offensichtlich Menschen. Zwei- oder
dreimal haben sie versucht meinen Bruder Wolfram und mich zu erwischen.
Wir waren zu dieser Zeit oft zusammen unterwegs.

Nach jedem dieser amerikanischen „Jagdflüge“ waren die Straßen voll von
silbern aussehenden, langstückigen und langzähnigen Splittern.
Wunderschön aussehend – für uns Kinder ! Wolfram und ich sammelten sie –
eine Zeitlang. Sie rosteten schnell. Einige Bordkanonen-Geschosse hatten
Aufschlagzünder.

Warten auf die Amerikaner

In Blankenburg war die Spannung innerhalb der letzten Tage bis ins
Unerträgliche gestiegen. Alle wussten, dass die Stadt vollständig
eingeschlossen war und hofften sehnlichst auf ein schnelles Ende“.

In unsere Familie „wussten“ wir wann die Amerikaner kommen. Es war
nämlich das Gerücht entstanden, die Amerikaner würden auf „Führers“
Geburtstag, den 20.April, warten, um einen besonders wirkungsvollen
Auftritt zu haben. Dieses „Wissen“ machte das Warten leichter.

Auf verlorenem Posten an der Teufelsmauer

Seit etwa dem 10.April war mein Vater als Volkssturmmann mit Adolf
Grodrian, dem Gärtner des Braunschweiger Herzogs, am Fuß der
Teufelsmauer, an der Tankstelle, Hasselfelder Straße, auf Posten
gestellt worden. „Kameraden“ spielten in der Tankstelle Karten. Vater
spielte nicht gern. So hielt er sich immer neben der Tankstelle auf.
Einige Volkssturmleute „bewachten“ (!) sog. Panzersperren. Wenige hatten
ein Gewehr. Vater hatte keins. Zusammen mit Hitlerjungen und einigen
Soldaten. Letztere hatten Panzerfäuste. Einige standen nur auf
Beobachtungsposten.

(Damaliger Witz. Frage: Wie lange brauchen die Amerikaner, um eine
Panzersperre zu umgehen ? Antwort 1 Std. und 2 min. 1 Stunde um sich
halb tot zu lachen und 2 min um sie zu umgehen).

Eines Tages sagte mein Vater „Ich gehe da nicht wieder hin“. So stiegen
sie vom Fuß der Teufelsmauer hoch auf die Teufelsmauer. Genau an diesem
Tage explodierte an der Stelle, wo sie eigentlich hätten stehen sollen,
ein Artilleriegeschoss. Keiner von beiden hätte überlebt.

Die beiden durften von diesem Tage weiterhin Posten auf der Teufelsmauer
beziehen. Die Sicht von dort war ohnehin viel besser. Denn der neue
Standort zwischen den Felsgruppen „Großmutter“ und „Großvater“,
ermöglichte hervorragende Weitsicht bis Westerhausen und z.T. bis nach
Börnecke. Die heutige Bewaldung fehlte.
So haben beide, und andere, tagsüber am 18. und 19.April, am Tage, die
fast pausenlosen Artillerieangriffe miterlebt. Meist wurde von Börnecke
aus geschossen. Am Granatenbeschuss beteiligten sich auch dort
aufgestellte amerikanische Panzer. Es gab auch zwei Tieffliegerangriffe.
(Nachts gingen alle Volkssturmleute nach Hause. Aber der
Granatenbeschuss wurde nicht unterbrochen).
Wie gesagt – wir rechneten schon Tage vorher mit einem amerikanischen
Angriff am 20.04.1945.

Der 20. April war ein strahlender Sonnentag. Der Frühling kam mit Macht.
Etwa 14 Tage früher als üblich. Die Äpfel blühten schon. Rhabarber
hatten wir schon geerntet. Mutter hatte ihn zu Saft verarbeitet und in
Weinflaschen abgefüllt.
Vater und Adolf Grodrian hatten wieder Posten auf der Teufelsmauer bezogen.
Von 10^00 bis 10^45 Uhr flogen die Amerikaner einen Bombenangriff auf
die Altstadt von Blankenburg. Keine Sirene heulte. Der Strom war
ausgefallen.

Mein Vater musste von oben, von der Höhe Teufelsmauer aus, zusehen, in
dem Bewusstsein, da unten ist meine Familie.

Am frühen Nachmittag des 20.April kurvten einige Jabos (Jagdbomber)
schießend über Blankenburg.

Dann waren Vater und sein Kamerad Zuschauer und Zeugen einer besonderen
Machtdemonstration der Amerikaner. Sie sahen, wie die Amerikaner zwei
Panzerkolonnen und Artillerie vor Westerhausen und zwischen Westerhausen
und Börnecke drohend in Position brachten „show of force“. Es war fast
zu Ende.

So kam Vater mittags nach Hause und tauschte seine Uniformjacke gegen
eine zivile Jacke und vergrub sie mit den übrigen Uniform-Teilen, die er
nach und nach zu Hause gelassen hatte, im Garten. Zusammen mit dem
Silberbesteck meiner Mutter. Dann eilte er zurück. G. und er trauten
sich nicht ihren Posten ganz zu verlassen, denn auf „Fahnenflucht“ stand
die Todesstrafe – bis zum Schluss praktiziert,.
Als die Amerikaner einmarschiert waren, verließen mein Vater und Adolf
Grodrian die Teufelsmauer und mischten sich unter die Menschen, die den
Luftschutzbunker im Heidelberg, am Fuß der Teufelsmauer verließen. Auf
amerikanischen Befehl. Es waren wohl fast alles Flüchtlinge.

G. wohnte in der Oststraße. Das bedeutete Überqueren der Westerhäuser
Straße. Aus Westerhausen waren die Amerikaner gekommen. G. traute sich
nicht allein die Westerhäuser Straße zu überqueren, weil er kein
Englisch konnte. So ging mein Vater mit. Tatsächlich wurden sie auf der
Westerhäuser Straße von zwei Amerikanern kontrolliert. Vater unterhielt
sich mit ihnen. Einer davon war rothaarig und ein geborener Ire. Es
schien schon alles geklärt. Da ließ G. vor lauter Nervosität sein
Kochgeschirr fallen. Plötzlich war die Stimmung explosiv. Waren die zwei
Männer in Zivilkleidung doch Soldaten, die sich einer Gefangennahme
entziehen wollten? Vater später zu uns: „Beinahe wäre alles schief
gegangen“.

Grodrian durfte dann doch passieren und mein Vater zurückgehen.
Was ich erst 2003 kapierte: Die amerikanischen Posten haben sowohl
Grodrian als auch meinem Vater Patrouillen hinterher geschickt.

Die Amerikaner suchten die Wohnung von G zwar in der Oststraße, aber auf
der falschen Seite, der Westseite. So erzählte mir Wolfgang Grodrian,
Sohn von Adolf G. (wie ich Jahrgang 1933) telefonisch am 16.04.2003.
Denn gegenüber von Grodrians Haus soll ein Mann mit seinem Kopf über den
Zaun gelugt und die Amerikaner beobachtet haben. Als die Amerikaner das
sahen, verschwand er hinter den Haus. Er wurde von Amerikanern verhaftet
– und kam nie wieder. Man hatte ihn wohl mit Grodrian verwechselt.
Auch bei meinem Vater hatte man nicht mitbekommen in welchem Haus er
verschwunden war. Aber man wusste die richtige Straßenseite. So wurden
zunächst zwei unserer direkten Nachbarhäuser, von Amerikanern, von der
Westerhäuser Straße kommend durchsucht.

Amerikaner in unserer Wohnung

Nachdem er Grodrian geholfen hatte, die Westerhäuser Straße zu
überqueren, war Vater auf der Herweg Straße zu uns zurückgekommen. Er
schien Angst zu haben und kam sofort zu uns in den Keller, wo wir uns
seit Beginn des Artilleriebeschusses fast Tag und Nacht aufhielten.

Bei uns war ein Ehepaar, mittleren Alters. Sie hatten an diesem Tag bei
uns Schutz gesucht. Wir kannten sie nicht und sie hatten sich auch nicht
vorgestellt. Nachdem mein Vater gesagt hatte, dass die Amerikaner da
wären, ging der fremde Mann immer wieder nach oben, um die Lage zu
sondieren. Wir hatten zwei Eingangstüren, getrennt durch einen Vorraum.
Die äußere Tür hatte ein Fenster. Plötzlich kam er wieder in den Keller
und sagte, draußen stehen Soldaten. „Ich weiß nicht, ob es Amerikaner
sind. Ich habe noch nie amerikanische Soldaten gesehen“. Unser Haus war
durch Stufen von der tiefer liegenden Grundstücks-Begrenzungsmauer zur
Herweg Straße getrennt. Auf der Mauer war ein Gitterzaun mit eisernen
Spitzen..

Ich ging dann ebenfalls zur Vordertür. An die Szene erinnere ich mich
noch immer. Fünf Amerikaner standen anscheinend unschlüssig auf der
Straße herum. Sie blickten sich suchend um und immer wieder zu unserem
Haus. Sie hatten es nicht eilig. Erst heute ist mir klar: Es muss ein
Spezialkommando gewesen sein, dass man meinem Vater nachgeschickt hatte:
Sie waren sich aber anscheinend nicht sicher, ob sie vor dem richtigen
Haus stünden, nachdem sie schon in zwei anderen Häusern vergeblich nach
ihm gefahndet hatten. (In den Nachbarhäusern gab es keine Männer).
Inzwischen war das Paar, das an diesem Tag bei uns Unterschlupf gesucht
hatte, verschwunden. Die Amerikaner kümmerte das nicht.
Schließlich entschlossen sie sich hereinzukommen, die Gewehre im
Anschlag, Läufe schräg nach unter gerichtet, Finger am Abzug. Wir
empfingen sie im Eingangsbereich und mussten mit ihnen weitere Stufen
zum Flur vor unserer Wohnung voraus gehen. Dort war unsere Wohnung durch
drei Türen erreichbar.

Wir sollten die Türen öffnen. Bei der mittleren ging es nicht. Wir
hatten diese Tür immer verschlossen. Der Schlüssel steckte innen. Alle
Zimmer hatten Verbindungstüren, so dass wir die mittlere Tür nicht
brauchten.

Einer der Soldaten zerschoss das Schloss und stieß mit dem Gewehr die
Tür auf. Das Zimmer dahinter war voll gestellt. Es war sowohl unser
Wohnzimmer, mit kostbaren Chippendale-Möbeln aus Mahagoni.als auch das
sog. Herrenzimmer mit Eichenmöbeln . (Heute würde man Arbeitszimmer
sagen). Das wichtigste Möbel-Stück war der wuchtige Schreibtisch meines
Vaters.

In der Küche sahen sie eine offene Weinflasche. Die Flasche enthielt
Rhabarbersaft ohne Zucker. Wir mussten vorkosten. Dann nippten einige
von ihnen – und spuckten in den Ausguss. Aber sie wollten unbedingt
wissen, was das merkwürdige Zeug sei. Unser Vater sah in seinem großen
Englisch-Lexikon nach und sagte es ihnen – rhubarb. Sie wiederholten das
Wort mehrstimmig. Dabei klang das u wie ein i.

Da sie offenbar Durst hatten, füllten sie sich Wassergläser mit Wasser
aus unserer Wasserleitung und gaben eine chlorhaltige
Entkeimungstablette dazu, vermutlich aus Chlorkalk.
Dann sahen sie sich unser Wohnzimmer an. Sie lümmelten sich in die
kostbaren Chippendale-Stühle meiner Mutter und schauten sich neugierig
um. Dass sie dabei die Stühle meiner Mutter mit ihren Gewehren
verkratzten störte sie nicht.

Dann gingen sie suchend umher. Einer ging zum Schreibtisch und zog das
Schreibfach heraus. Er entdeckte zwei Kostbarkeiten unseres Vaters, mit
denen wir nicht spielen durften: Es waren ein Schuco-Modellauto und ein
Marschkompass. Der „Schreibtisch-Täter“ fragte höflich, ob er beides
behalten dürfte. Unser Vater bejahte ebenso höflich. Was sollte er sonst
tun ?

Die ganze Zeit unterhielten sie sich mit unserem Vater. Dann gingen sie
– nach etwa 20 min. Die Besetzung von ganz Blankenburg hat 1½ Stunden
gedauert.

Ich nehme an, dass mein Vater nachweisen konnte, dass er als
Englisch-Lehrer an der Blankenburger Oberschule beschäftigt war.

Heraustreiben aus den Häusern

Nach dem Verschwinden der Spezial-Patrouille wurden alle Deutschen in
der Herweg Straße von amerikanischen Soldaten aus ihren Häusern
getrieben. Wir mussten mit erhobenen Händen bis zur Westerhäuser Straße
gehen. Auch ich, ein 12-Jähriger Junge, und Kleinster in der Klasse,
musste, mit kurzer Hose, mit erhobenen Händen, gehen ! I

Ich Knirps muss schrecklich gefährlich ausgesehen haben !

Anschließend gab es in Blankenburg kaum noch Kameras. Kameras waren die
bevorzugte Beute der Amerikaner.